„I love India“ prangert über ihren Köpfen. Wie gefallene Engel liegen sie auf der Straße, die Gesichter friedvoll erleuchtetet.. Körper an Körper drängen sie sich auf dem harten, unbequem kalten Asphalt Kalkuttas aneinander. Nicht vertrieben aus dem Reich Gottes; sie haben den Himmel nie kennenlernen dürfen. Sleepers. Unter diesem Titel zeichnet Javier Arcenillas mit seiner Kamera ein bisher ungezeigtes Bild der Unberührbaren. „Ein Drittel der Bevölkerung Indiens lebt auf den Straßen der Stadt, und jeden Tag füllt ein Mantel aus Menschen die Ecken und den Asphalt, ganze Familien schlafen auf dem kalten, feuchten Boden zwischen Ratten, Krähen und Müll“, berichtet der Fotograf. Weit über hundert Millionen, die aus dem Kastenwesen ausgeschlossen sind. Als unrein verachtet, diskriminiert, verfolgt. Der Bodensatz der Gesellschaft. Der Mangel an Wohnraum und extreme Armut machen sie zu einer trivialen Erscheinung der nächtlichen Landschaft.
Der Spanier Javier Arcenillas raut sich heran an diese sozialen Brennpunkte, zeigt die Schattenseiten. Ungeschönt. Zu seinen Fotos entwickelt der Fotograf Essays. „Es ist wichtig, dass die Bilder mit einem Text beschrieben sind, damit der richtige Hintergrund bekannt ist. Damit man weiß, worüber man redet“, sagt er. Ausgezeichnet wurde er dafür schon mit zahlreichen internationalen Preisen. Darunter The Arts Press Award, World Photography of the Year und Fotoevidence. Seine Bilder zeigen Menschen am Rand der Gesellschaft. Ölüberzogene Geschöpfe, die barfuß und mit bloßen Händen auf dem weltweit größte Schiffsfriedhof im Dreck arbeiten, auf den einst schönsten Stränden Chittagongs. Familien, die auf riesigen Mülldeponien mitten im Glas und Plastik leben, von dem ihr wirtschaftliches Überleben abhängt. Angehörige der Rohingya, gewaltsam aus ihren Häusern verdrängt, unterjocht, vertrieben aus Myanmar, geflüchtet nach Bangladesch, seit Jahren untergebracht in Notlagern. Die Zukunft: unsicher.
Bilder, für die Javier teilweise an seine Grenzen geht. So in der Dokumentation über die Sicarios. Auftragskiller von den Straßen Lateinamerikas. Oft noch Kinder, die für ein Honorar von 15 bis 10.000 Dollar morden. Für seine Arbeit begibt er sich mitten unter sie. Zwischen Mörder und Leichen. „Ich hatte keinen Schutz”, sagt er. „Ich habe viele Sicarios getroffen und sie öffneten mir die Türen zu ihrem Leben.” Seine Fotografien zeigen Szenen von Jugendlichen mit Messern und Pistolen, Drohgebärden, den Wahnsinn in den Augen. Und die Opfer. Blutüberströmt, entstellt. Verstörende Bilder. „Ich versuche ihre Geschichten und Lebensweisen zu erzählen. Es war ein sehr schwerer Job. Es dauert lange, bis man in ihre Welt gelangt”, sagt Javier.
Die Welt der Unberührbaren in Indien hingegen streifte er während der Arbeit für einem anderen Auftrag zuerst nur. „Ich habe für eine lange Zeit mit den Missionaren der Wohltätigkeitsorganisation in Kalkutta gearbeitet. Jeden Morgen habe ich mit psychiatrischen Patienten und Menschen mit diversen mentalen Krankheiten gearbeitet. Ich habe dabei Hunderte von Menschen auf den Bürgersteigen und Straßen schlafen sehen.“ Der Anblick ließ ihn nicht mehr los. „Ich habe mir damals geschworen, wenn ich nach Indien zurückkehre, werde ich eine Arbeit über sie entwickeln.“ Er hielt sein Versprechen. Ein Essay entstand, der Menschen in ihrer schutzlosesten Situation zeigt. Intime Szenen. Bilder, die trotzdem nicht voyeuristisch wirken, nicht wie aus der Perspektive eines Schaulustigen. „Die Wahrheit ist, dass ich nichts versteckt habe. Ich arbeite mit einem Stativ und vielen Blitzen. Die Unberührbaren leben in Frieden, und empfinden meine Anwesenheit nicht als Aggression, aber in den meisten Fällen wissen sie nicht, dass sie porträtiert werden“, erklärt Javier. „Manche wachten am Morgen auf, sahen zu mir rüber, aber sie sprachen nicht mit mir. Sie wachten nur auf und gingen weg.“ Es seien gestohlene Bilder, allerdings mit einer klaren Intention. Diese „Street Photography“ zeigt die Sleepers nicht in gestellten Situationen. Sie sind real. Männer, die auf einem Anhänger, einer Rikscha oder dem Kofferraum eines Taxis schlafen. Kinder, die sich zu viert auf ein dünnes zerrissenes Stück Stoff drängen, dass sie vom puren Asphalt trennt. Zu viert in einem Bett, das keins ist. Das Gesicht bedeckt mit einem Tuch, um unter Straßenlaternen und neben Restaurants ein wenig Schlaf zu finden.
Ein harter Kontrast in einer Zeit, in der Sieben-Zonen-Matratzen für ein optimal gelagertes Rückgrat sor gen, oder getrennte Betten salonfähig werden. „Wer schlafen kann, darf glücklich sein“, stellte Erich Kästner fest. Doch Qualität von Schlaf ist Luxus, ein Privileg. Der kaum beachtete internationale World Sleep Day versucht jedes Jahr darauf aufmerksam zu machen. Therapien zur Behandlung von Schlafstörung erfahren einen Boom. Schließlich verbringt der Mensch fast ein Drittel seiner Lebenszeit in Morpheus Armen liegend. Wissenschaftler erforschen die Nachtruhe an verkabeln Testschläfer in Schlaflaboren, Aktometer geben Aufschluss über die Ruhephasen. Gut schlafen bedeutet Erholung, Regeneration des Körpers und der psychischen Energie. Ein Mangel an solchen Ruhephasen hingegen kann krank machen.
„Chronisch schlechter und/oder zu kurzer Schlaf verkürzt die Lebenserwartung und kann Herzinfarkt, Bluthochdruck, Zucker und Krebs begünstigen“, bestätigt Prof. Dr. med. Ingo Fietze, Leiter des Interdisziplinären Schlafmedizinischen Zentrums, Charité – Universitätsmedizin Berlin und Vorstandsvorsitzender der Deutschen Stiftung Schlaf. Kein Dach über dem Kopf, kein Rückzugsraum, keine Schlafqualität. „Man wird bei ungewohnten Geräuschen wach, wenn man weiß, dass man da wach werden sollte“, sagt der Experte. Denn im Dämmerzustand ist der Mensch anfällig für vielerlei Gefahren. Ein stabiles Dach und Wände schützen vor Wetter und Wind, Lärm und Licht, Dieben und Mördern, Raubtieren und krankheitsübertragenden Kleintieren. Ein Bett oder Podest hilft, Gefahren, die von kleineren Parasiten ausgehen, zu reduzieren. Doch selbst die Zahl der Anhänger und Rikschas in Kalkutta, die einen jämmerlichen Schutz bieten, ist zu gering.
Eben jene Ungerechtigkeit berührt Javier am meisten. „Hungrige Kinder oder Menschen, die wegen des Wassermangels sterben. Unsere Welt ist so furchtbar unfair. Das muss sich ändern. “ Auf seiner Homepage hat er deshalb die Perikopen, die „Basic Rules“ seiner Lebensphilosophie in Bezug auf die Fotografie veröffentlicht. Punkt 10: „Lass den Satz des Tages sein ‚Einmal in meinem Leben werde ich zuhören’, und du wirst die Heilung für das Böse der Welt fühlen. Gleichgültigkeit.“ Mit seinen Werken versucht der Humanist die Welt ein Stück zu verbessern. „Ich denke, dass meine Bilder das Publikum zum Denken anregen. Ich bin ein überzeugter Anhänger der Fotographie und glaube, dass ein großartiges Bild die Welt verändern kann.“